Als Mizar begann zu erzählen, von dem Heiligtum und den Fähigkeiten die es verlieh, von der Kraft, ins das Innere des eigenen Geistes einzutauchen, sich selbst kennenzulernen, spürte Arion eine Art Sog in sich, einen Drang, der ihn von innen zu zerreißen schien, alles drehte sich vor seinen Augen. Es war, als habe er immer schon von diesem geheimen, nur ihm zugänglichen Ort gewusst, ja als hätte das Heiligtum selber ihn zu sich gerufen und nun hatte er die verborgene Spur entdeckt, die Mauer durchbrochen, die ihn von seinem Geist, seinem Unterbewusstsein, der Quelle einer viel größeren Macht, als er sie jemals besessen hätte, trennte. Doch da war noch etwas, ein letztes Hindernis, ein Ereignis, ein Stolperstein, den man übersah und der dennoch unüberwindbar war. Arion wollte ihn entfernen, vernichten, um den Weg endgültig zu enthüllen, doch dann sah er, worum es sich handelte und er zuckte innerlich zusammen.
Einen Moment später öffnete er die Augen wieder, die er zuvor geschlossen hatte, eine entschlossene Miene auf dem Gesicht, denn er wusste, für diese letzte Prüfung musste er stark sein, er würde sich selbst überwinden müssen, etwas zu tun, was er sonst niemals machen würde. Und so setzte er an, eine Geschichte zu erzählen, die er verschlossen hatte, versperrt und die er nun wieder ausgraben musste.
„Es ist noch nicht sehr lange her, dass ich Arothos besuchte. Zurückblickend weiß ich nicht, ob ich es erneut wagen würde, diese Stadt zu betreten, sie auch nur von weitem anzusehen, denn sie hat mich gelehrt, was Macht ist, was es bedeutet, mächtig zu sein. Gleichzeitig hat sie mich jedoch gelehrt, dass ich diese Macht niemals so besitzen würde, wie ich es mir in meiner Eitelkeit ausgemalt hatte und diese Lektion war schmerzhaft. Heute weiß ich, was passierte und ich weiß, dass ich töricht gehandelt habe. Doch wo, das weiß ich nicht. Vielleicht war es eine einzige falsche Entscheidung, vielleicht war es mir von Anfang an vorherbestimmt, diese Entscheidung zu treffen, vielleicht war es ein Mittelding zwischen beidem.
Also, ich kam nach Arothos, um die Runenmagie zu erlernen, eines Tages selbst ein Magier zu werden. Viele hatten mir abgeraten, doch dank meiner Neugierde war ich von diesem Entschluss nicht abzubringen. In Arothos existierte das größte, berühmteste und mit Sicherheit beste Zentrum für Runenmagie im Umkreis vieler Tagesreisen. Natürlich wollte mich niemand aufnehmen, nicht, weil ich ein Vampir war, das war ihnen gleichgültig, doch sie mussten erkannt haben, dass es ein Fehler sein würde, ein großer Fehler, auch wenn sie nicht sahen, warum. Doch sie haben mich aufgenommen, ich wurde einer der Schüler des Magiezentrums, nicht nur irgendeiner, der beste. Ich lernte schnell, beherrschte Dinge, für die meine Mitschüler Wochen brauchten, innerhalb eines Tages, konnte sie sogar im Schlaf anwenden, bald konnte ich sogar den Schlaf selber manipulieren, genau wie alles andere. Die anfänglichen Zweifel waren verschwunden, ich wurde als Naturtalent gefeiert, ich feierte mich auch selbst, schließlich waren nun alle Selbstzweifel besiegt, wie ich es mir gedacht hatte, ich war für die Magie geschaffen, die gesamte Magieschule betete mich an und wenn nicht, brachte ich sie dazu. Vielleicht habe ich damals meine Kräfte missbraucht, ich hätte anderen helfen können, Brände löschen, Menschen vor Unfällen bewahren, Verbrecher fangen, ohne mehr als einen Gedanken daran zu verschwenden, doch ich tat es nicht, warum kann ich nicht sagen, es erschien mir einfach unwichtig.
Aber dann kam er, der Tag, besser gesagt der Abend, an dem ich mehr lernte als je zuvor und doch alles verlor, der Tag der Wahrheit, der Tag, an dem ich erkannte, dass es nicht darum ging, was ich alles konnte, da es sowieso niemals auch nur annähernd wahrer Macht gleichkommen würde und die war es doch, nach der ich damals strebte. Ich ging die Treppe hinunter, erinnere mich noch genau, sie war aus grobem Stein gehauen, nur einige Fackeln leuchteten, doch ich ließ sie auflodern wie ich es stets tat, schließlich war ich es, der diesen Weg ging und die Treppe sollte dies bemerken. Ich war auf dem Weg, meinen Irrsinn, meine Suche nach Macht zu beenden, das wusste ich, doch ich Narr war mich nicht im Klaren darüber, wie, nein, das wusste ich nicht. Als ich im Keller stand, die Tür fest verschlossen, blickte ich mich lachend um, ich lachte nur noch, warum auch nicht, in meinen Augen erschien alles lächerlich, auch die Aufgabe, die ich mir für heute vorgenommen hatte. Und so machte ich mich ans Werk, konzentrieren musste ich mich nicht, warum auch, das war unter meiner Würde. Was ich begann? Ich wollte etwas manipulieren, was nicht manipulierbar ist. Oder besser gesagt, etwas, was sich unaufhörlich selbst manipuliert, und doch in seiner Kraft stets einig bleibt, etwas unbezwingbares, dem ich meinen Willen aufzwingen wollte. Und so machte ich mich daran, die Magie selbst zu manipulieren, sie an mich anzupassen, ich alleine wollte sie benutzen dürfen, ich alleine wollte sie besitzen, verwenden, der einzige Runenmagier sein. Runen verwendete ich, die ich heute nicht mehr kenne, vergessen habe ich sie und das ist gut, denn wer weiß, ob ich nicht noch einmal in einen solchen Rausch verfallen würde, niemand kann das wissen.
Und es schien zu funktionieren, wie ich es mir gedacht hatte, natürlich, alles verlief wie ich es mir dachte, alleine dadurch dass ich es mir dachte. Die Magie fügte sich, bündelte sich in mir und ich tauchte in sie ein, durchbrach ihre Schranken und begann, sie zu begreifen. Doch mit diesem Begreifen, diesem Eintauchen in das Wesen der Runen, wurde mir bewusst, was ich falsch gemacht hatte, was ich gedacht hatte. Die Magie war um mich herum, doch nicht ich beherrschte sie, sie beherrschte mich und es schien ihr Freude zu bereiten, mir ihre Macht mitzuteilen. Wie hatte ich nur denken können, ich könnte etwas Derartiges kontrollieren, ihre Ausläufer hatte ich mir zu Nutzen gemacht, verwendete und für das Ganze gehalten. Nun belehrte sie mich eines besseren und mit meinem Begreifen verlor ich die Kontrolle über die Kräfte, die ich zuvor besessen hatte, die Magie nahm sie sich zurück und was mir blieb, war nur ein Bruchteil. Und damit alle sahen, was mir geschehen war, alle sahen, was ich gesehen hatte, zeichnete die Magie mich und nahm mir einen Finger meiner Hand, der rechten, nahm ihn und entließ mich dann, befreite mich von ihr und erlaubte es mir, zu gehen.
Seitdem habe ich nur vier Finger an der rechten Hand, meine Magie ist deutlich schwächer geworden und das Magiezentrum hat mich verbannt, nie mehr darf ich zurückkehren und das verstehe ich. Doch als ich das wahre Wesen der Magie kennenlernte, lernte ich auch mich selbst besser kennen und erkannte, dass mein Leben noch immer ein Ziel, einen Sinn hat. Und so machte ich mich auf an einen Ort, von dem ich bereits in meiner Kindheit gehört hatte, eine Stadt, Telaron genannt, um dieses Ziel zu finden.“
Einen Moment war alles still, dann blickte Arion auf. Er hatte erzählt, was er verborgen hatte, sich sich selbst gestellt und wusste, nun würde der Weg frei sein. Doch was mit seiner Geschichte, seinen Taten war, das entschied nun nicht nur er, nein auch die gesamte Gruppe wusste nun bescheid über sein Handeln. In diesem Moment spürte er einen Finger auf seiner Stirn, Mizars. Er zeigte Arion, dass es Zeit war und dieser nahm den Weg, den er bereits kannte, nun ohne Hindernisse, glitt er hinüber in eine andere Welt.
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Es war still. Stiller als sonst. Arion blickte auf und sah sich um. Er befand sich in... war das ein Raum? Ja, es sah aus wie ein weißer Raum, der sich jedoch stetig wandelte. Dann, plötzlich, als hätte er eine Entscheidung getroffen, veränderte er sich nicht mehr und behielt seine Form bei. Nun stand Arion in einer großen Höhle, die jedoch von Licht durchflutet wurde, Sonnenlicht, das auf den Stein fiel und ihn zum Glitzern brachte. Und da glitzerte noch etwas, Arion sah es erst jetzt, ein Fluss. Ja, er kam aus dem Stein und floss geradewegs neben einem Weg her, der aus der Höhle hinaus führte, vollkommen still und doch mit rascher Geschwindigkeit bahnte sich das Wasser seinen Weg und der Strom schien nicht zu enden.
Langsam und vorsichtig folgte Arion dem Wasser, während er sich mit der unbekannten Umgebung vertraut machte. Er fühlte eine eigenartige Ruhe in sich, die zu der Stille dieses Ortes passte, einen Frieden, den er nur hier finden würde, nirgends sonst, das wusste Arion instinktiv. Als er das Ende der Höhle erreichte und dem Flusslauf weiter folgen würde, tauchte wie aus dem Nichts ein Tor vor ihm auf. Es war von der selben Farbe wie das Gestein und eine goldene Rune prangte auf den Torflügeln. Arion wollte es durchschreiten, doch dann wurde ihm bewusst, dass das Tor nicht ohne Grund hier auftauchte, alles hier hatte einen Grund. Heute war er weit genug gegangen, es wäre unklug, den Weg nun fortzusetzen.
Und als er dies erkannt hatte, begann er sich aufzulösen, zurück in die reale Welt zu gleiten und das letzte, was er im Kopf behielt, war die goldene Rune auf den Torflügeln...