Nachdem er die Rede des Kronprinzen angehört hatte, war das Gesicht des Fürsten bleich vor Zorn und Furcht.
"Habt Ihr eine Ahnung, was ihr da gemacht habt? Das Recht zur Rebellion gegeben, genau das!"
"Lassen Sie mich eine Frage stellen, werter Fürst. Wenn ein Stadtbrand ausbricht, der bereits dabei ist, ein ganzes Viertel zu verschlingen, wie beschützt man am besten den Rest der Stadt?" erwiderte der Prinz gleichgültig, und wartete nicht auf eine Antwort.
"Ganz einfach, man reißt Gebäude ein, und schon kann sich das Feuer wegen der Lücken in den Häuserreihen nicht weiter ausbreiten. Wenn man nicht schnell handelt, lässt sich das Inferno aber nicht mehr eindämmen." Erst jetzt ließ er Arnulf zu Wort kommen.
"Und was macht Ihr? Ihr reißt diese Gebäude ein, indem Ihr die Stützpfeiler anzündet! Ihr tut das Gegenteil von dem, was ihr sagt!"
"Ach, mein werter Fürst, gibt es denn wirklich nichts, was die Bevölkerung schon bald in Aufruhr versetzen würde?"
"Was meint ihr?"
"Ich weiß, was der Ailfennaische Adelsrat vorhat. Die Steuerreform? Oder besser gesagt, die brutale Besteuerung für alle Angehörigen der spioradistischen Kirche? Ich muss zugeben, es gibt weniger elegante Methoden des kulturellen Genozids. Nur zu Schade, dass auch eine Menge der örtlichen Soldaten Spioradisten sind und der Sold, den sie unter Einsatz ihres Lebens verdienen, plötzlich keine Familie mehr ernähren kann. Ich hätte auch Einspruch gegen diese Reform erheben können, doch das würde wohl oder übel die Verfassungs-garantierte Authorität der Fürsten beeinträchtigen. Mein Besuch in Zarownidom ist hiermit beendet. Eine schöne Stadt... hoffen wir, dass es so bleibt."
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Auf den Straßen war nicht viel los, selbst für einen Vormittag. Die Feiertage waren vorbei, also waren die Kinder in der Schule und die Erwachsenen bei der Arbeit. Die meisten Händler, die zum Jorelium nach Zarownidom gekommen waren, hatten sich schon mit dem Öffnen der Stadttore im Morgengrauen verzogen. Es gab hier und da ein paar Bettler, manchmal kam ein Wagen vorbei, der eine Werkstatt belieferte, aber jetzt zur Fastenzeit gab es nicht viel Produktion und damit auch nicht viel zu Liefern.
Korina hörte in der Ferne einige Jorel-Sänger, die herumgingen und die Häuser für das neue Jahr segneten, als sie einige Senioren sah, die mit trockenem Reisbrot in der Hand aus einer Bäckerei kamen. Wie es der Zufall so wollte, waren es die gleichen Greise, die Korina gestern beim Protest vor der Fürstenburg belauscht hatte. Was sie hingegen nicht bemerkte, war eine Gestalt, die auf einem Dach stand und von oben auf sie hinabblickte.
"Noch kene Antwort vom Fürst. Hat nur de Tomatenwerfer an'n Pranger gestellt. Hat wohl keine Angst, das der Prinz ihm Feuer unterm Arsch macht." sagte Johnny, der Wolfswandler.
"Wie gesagt, diese Leute sind die reinsten Teufel, wenn sie so auf Kritik reagiern." meinte die alte Frau.
"Vitali, haste nicht gestern noch gesagt, du willst dir diese Schwarzen Engel mal genauer ansehen. Meinst du immer noch, dass die ganz in Ordnung sind?"
"Ja, also ich hab sie ja auch vorhin gesehen, kümmern sich um die Armen, jetzt, da das Fest vorbei ist und es an normalen Spenden mangelt. Und die sind auch so recht freundlich drauf... hey, Johnny, was isn so interessant an den Steckbriefen? Was von den Attentätern?"
In der Nähe der Bäckerei stand in der Tat eine Plakatwand mit mehreren Steckbriefen. Von den Verantwortlichen des Massakers gab es keine Phantomzeichnungen, aber Korina bemerkte eine ihr allzu gut bekannte Maske.
"Erinnert ihr euch an desen Rabenteufel?" fragte Johnny seine Kollegen, die nickten.
"Nun, se wurd ja zuletzt en Killius-Stadt gesehn, beim Anschlag aaf Nicollo. Ich frag mech, was wenn se zur Regierung gehört? Dunkle Schwingn, Dunkler Rab, passt doch zusammen."
"Jetzt hör mal auf, Gerüchte gibts viele, warst du etwa dabei, als der Fürst gestorben ist? So was in der Art würd ich ja so manchem Politiker zutrauen, aber bei sowas nen gefährlichen Serienkiller anheuern?" erwiderte der Nichtwandler-Greis
Das Gespräch nahm ein jähes Ende, als die alte Frau nach Luft schnappte und in die Luft deutete - so etwa in die Richtung direkt über Korina.
Die Schwertkämpferin hörte das Rauschen, als etwas durch die Luft gleitete, und spührte die Vibrationen im Boden, als dieses etwas hinter ihr landete. Mit einer Hand am Schwertgriff wandte Korina sich um - und ließ die Kinnlade fallen.
Bei dem Etwas handelte es sich um eine menschliche Gestalt, in etwa so groß wie sie selbst, mit eng anliegender schwarzer Kleidung, die eine weibliche Körperform fast komplett verhüllte. Das einzige lose Kleidungsstück war ein Umhang, der ihren Rücken zierte und von irgend etwas aufgebauscht wurde. Ihre Füße steckten nicht in Schuhen, sondern waren jediglich in dicken, schwarzen Binden eingewickelt. Das eigentlich überraschende an dieser Person war aber das Gesicht. Oder besser gesagt, der Gegenstand, der das Gesicht verdeckte: Eine schwarze Pestdoktorenmaske, fast identisch zu jener, mit der Korina selbst einst ihre Identität verborgen hatte.
Der falsche Rabenteufel zog ihre Waffe, ein zweihändiges Krummschwert aus dunklem Stahl, das eine Einbuchtung in der Klinge hatte.
"Hach, wenn man vom Teufel spricht." sagte sie seufzend, so als würde sie gerade eine Delikatesse genießen, und wollte vorwärts stürmen, um die um Hilfe rufenden Senioren abzuschlachten, doch Korina stellte sich ihr in den Weg. Zwei schwarze Klingen prallten aufeinander, und Korina konnte im Dunkel hinter den glasbewährten Augenlöchern der Maske gerade noch ein Paar roter Augen entdecken, als die Vorwärtsbewegung des falschen Teufels langsam zum Halt kam. Der Teufel tat einen Schritt zurück und schlug dann erneut zu, diesmal mit dem Ziel, Korina zu treffen. Schon bald wurden die beiden Schwertkämpferinnen in einen tödlichen Tanz verwickelt. Korina blockte mit Schwert und Armschienen, hieb nach ihrem Gegner, wann immer sie nahe genug kam, und tauchte gekonnt unter Hieben weg. Aber ihr Gegner ließ sich fürs erste genauso wenig treffen. Doch schließlich schaffte sie es, die Verteidigung des falschen Teufels zu durchbrechen und ihr einen leider nicht sehr tiefen Schnitt im Oberarm zu verpassen. Doch als sie den Gegenangriff der Maskierten blockte, verhakte sich die Rabenklaue in der Ausbuchtung des Krummschwertes, wo sie nun einen kaum zu sehenden Widerhaken bemerkte.
"Nicht schlecht. In einem fairen Kampf würde ich wohl früher oder später unterliegen." meinte der Teufel, als sie Korina mit einem weiten Schwertschwung mitzog und aus dem Gleichgewicht brachte. Gerade, als Korina es schaffte, ihre Waffe aus dem Griff des Krummschwertes zu befreien, fuhr ihr Gegner fort.
"Dann bleib ich wohl besser nicht fair."
Mit diesen Worten leuchteten die Augen des Teufels hell auf, sodass das Glas ganz rot aussah. Und Korina spührte, wie ihr Rücken außeinander gerissen wurde.
Es fühlte sich genauso an wie damals, beim Kampf gegen diesen furchtbar starken Ritter im Gefängnis in Iridae, als dieser sie aufgeschlitzt hatte. Wenn ihr Gegner mit nur einem Blick eine solche Verletzung verursachen konnte, hatte Korina schon verloren.
Der falsche Teufel hob ihre Waffe und ließ sie auf Korina niedersaußen, doch sie schaffte es trotz der extremen Schmerzen, den Hieb abzulenken, ohne von der Wucht zurückgestoßen zu werden.
"Oh, beeindruckend. Trotz des Schmerzes bist du noch so stark..." flüsterte ihr Gegner. Das rote Glühen ihrer Augen erlosch, und der Schmerz klang so schnell ab, wie er gekommen war. Korina konnte wieder normal kämpfen, und wehrte erfolgreich einige weitere Attacken ab, während sie durchatmete. Sie musste diesen falschen Rabenteufel hier und jetzt töten. Einen Trittbrettfahrer, der genauso viel Unheil anrichtete, wie sie selbst, wollte sie nicht laufen lassen.
Der Todestanz ging weiter, und jetzt fingen beide Parteien an, einander Schaden zuzufügen. Korina erlitt einen Schnitt am Arm und an der Wange, verpasste ihrem Gegner aber im Austausch einen heftigen Fausthieb in den Bauch, gefolgt von einem tiefen, hässlichen Schnitt in den Arm, der die Schwerthiebe des Teufels schwächen sollte. Doch dann wurde sie von einem Tritt zurückgestoßen und konnte nur knapp einem Augenhieb ausweichen, und Blut aus ihrer Stirn floß über ihr Blickfeld. Nach diesen Attacken tat ihr Gegner jedoch einen Schritt zurück und hielt sich den verletzten Arm.
"Weißt du eigentlich, wo der Begriff 'Rabenteufel' stammt?" Korina erstarrte, als sie sich das Blut aus dem Gesicht wischte. Wenn dieser falsche Teufel genau dieses Thema ansprach, hieß das, dass sie wusste, dass sie gerade mit dem wahren Teufel sprach?
"Er ist eine Figur aus den Mythen der Ailfennaer." fuhr der falsche Teufel fort und warf dabei Blicke in beide Richtungen der Straßen. Soldaten näherten sich ihnen.
"Einer der vier Todesgeister. Er erntet die Seelen von bösen und verdorbenen Menschen, und ergötzt sich an den Qualen, die sie in der Hölle erleiden. Er schlägt unerwartet zu, oft richtet er über jene, die scheinbar nichts getan haben, denn in allen Menschen schlummert das Böse, und der Rabenteufel ist stets zur Stelle, um zu verhindern, dass es erwacht."
Korina kannte diese Geschichte. Der ursprüngliche Rabenteufel war eine gefürchtete Gruselgestalt, kein Wunder, dass man einen Serienkiller mit einer Schnabelmaske nach ihm benannte.
Wegen des lebensraubenden Effekts der Rabenklaue wurde der falsche Teufel schwerer von den Verletzungen getroffen als Korina, obwohl die gelbäugige Schwertkämpferin mehr abbekommen hatte. Das war die Chance, die Sache zu beenden. Korina kam näher, um die Distanz zwischen ihnen zu überwinden und ihren Gegner in einen dritten und letzten Todestanz zu verwickeln, doch dann sah sie die Augen des falschen Teufels erneut rot aufleuchten.
Auf erneute höllische Schmerzen am Rücken war Korina gefasst. Aber nicht auf das, was jetzt folgte. All diese Erinnerungen. Tote Körper, die sich stapelten, die sie erdrückten. Hände eines Sterbenden, der verzweifelt versuchte, ihre Kehle zu zerquetschen. Das düstere Lächeln ihrer Tante, die Stolz war, einen so guten Unterricht geleistet zu haben. Korina brach zusammen und begann zu hyperventilieren.
"Was für ein seltsamer Schmerz." hörte Korina den falschen Teufel am Rande ihres Bewusstseins murmeln.
"Er war einfach so da... was da wohl war? Na ja, ich könnt dich jetzt wohl leicht töten. Aber das soll ich noch nicht, und mir geht sowieso die Zeit aus." Sie stach ihr Schwert durch Korinas Schulter, während ihre Augen erneut dunkel wurden, und der physische Schmerz brachte Korina gerade so in die Realität zurück, dass sie mitbekam, wie der Umhang des falschen Teufels flatterte, und sich das, was ihn so aufgebauscht hatte, als verborgene schwarze Flügel herausstelte. Die geflügelte Schwertkämpferin zog ihre Waffe aus Korinas Schulter hervor und flog davon, nur einen Moment, bevor der geworfene Speer eines Soldaten sie treffen konnte.
"Sind Sie in Ordnung?" fragte ein Soldat die verletzte Korina besorgt und versuchte, sie in eine stabile Seitenlage zu bringen, doch seine Berührung sendete Schockwellen durch ihren Körper. Anders als der Schmerz an ihrem Rücken verzogen sich diese Erinnerungen nicht so einfach, sobald die seltsame Magie des falschen Teufels stoppte. Korina fuchtelte mit dem unverletzten linken Arm, traf den Sanitäter so hart, dass seine Nase brach, und rappelte sich auf. Keiner der Soldaten schaffte es, die panische Schwertkämpferin aufzuhalten, so schnell rannte sie fort, während Blut aus ihrer rechten Schulter ihre Kleidung durchtränkte und auf den Boden tropfte.
Nicht unweit der SH-Basis, in Blickreichweite von Nina und den anderen Geistern, ging Korina schließlich die Puste aus, und sie ging zu Boden. In der materiellen Welt befand sich außer ihr im Moment niemand in dieser abgelegenen Straße.
"Korina? Korinaaa!" rief Nina besorgt und eilte zu ihr herüber.