Als Matthew am nächsten Morgen erwachte, war die Sonne bereits aufgegangen. Er blickte kurz auf die Taschenuhr, die auf dem Beistelltisch neben seinem Bett lag - er hatte nicht verschlafen -, dann stand er auf, zog sich an und betrat die Küche. Das Brot von gestern Abend war bereits zu Teilen aufgebraucht, und er schnitt sich eine Scheibe ab, um sie gleich darauf zu belegen - der selbe Belag wie am Tag zuvor, doch das kümmerte ihn wenig.
Er ging die Treppe hinunter und sah Carter an seinem Schreibtisch sitzen, er reparierte gerade eine Pistole.
"Morgen", grüßte Matthew ihn,
"Ich mach mich gleich auf zu Forax, hast du etwas neues für ihn?" Carter sah kurz auf und dachte nach, dann antwortete er: "Nein, aber nimm doch deine neue Erfindung mit - du scheinst ja gestern Nacht noch daran gearbeitet zu haben." -
"Ja, ich bin sogar fertig geworden. Mal sehen, was er dazu sagt." - "Dann bis nachher - bleib aber nicht zu lange, ich habe heute Abend sicher ein paar Pakete fertig, die ausgeliefert werden müssen."
Matthew seufzte.
"Fertige Pakete" hieß für ihn, dass er noch einmal durch die halbe Stadt laufen sollte, um irgendwelchen Leuten ihre Waren zu bringen, nur weil diese zu faul waren, sie selbst abzuholen. Er würde sich wohl oder übel nicht drum herum drücken können, also nahm er sich den Ratschlag zu Herzen. Dann verließ er den Laden.
-------- Flashback ---------
Der Schein der Leuchtsteine, die das Haus erleuchteten, reichte bis auf die Straße - jeder Kriminelle, der plante, hier einzusteigen, musste sich dem Schein der Steine aussetzen. Nicht, dass es in der Oberschicht von Dulluas Cannan Kriminelle gäbe, außer natürlich den korrupten Zwergen und Menschen, die wohl ihre Ehefrauen in die Schmiedeöfen werfen würden, wenn sie dafür Goldmünzen herausbekämen. Dennoch hatte Forax D'Elogie kein Risiko eingehen wollen, außerdem waren die Steine dekorativer Augenschmaus.
Es war ein Sommerabend - zumindest ließen das das Licht der Deckenkristalle und ein Blick auf einen der oberirdischen Kalender vermuten, denn Jahreszeiten gab es hier unten nicht. Viel zu trist und einfallslos war das Leben hier unten, und so vertrieb sich Forax seine Zeit hauptsächlich damit, seine Diener im Schwertkampf zu fordern und sie chancenlos zu schlagen. So auch jetzt, als er seinem Diener die Schwertattrappe aus Holz mit einer seitlichen Drehung des Handgelenks aus der Hand fegte und ihm die Holzspitze seiner Klinge gegen den Bauch drückte. "Ihr müsst eure Flanke besser decken, sonst habt ihr keine Chance gegen irgendwen.", konstatierte er, dann vernahm er hinter sich Schritte. Ein weiterer Diener stand dort, und neben ihm ein Junge - er mochte wohl gerade sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein, und hielt ein Paket in den Händen. "Der Bote ist eingetroffen", gab der Diener unnötigerweise bekannt. Forax nickte und trat auf den Jungen zu. Die beiden standen sich einen Moment gegenüber und musterten sich. Hier der junge, der die typische Kleidung des Mittelschicht, einfache, aber saubere Leinenkleidung, dort der Adelige aus der Oberschicht, der zwar ebenfalls nur Hemd und Hose trug, aber dessen Kleidung weitaus edler wirkte.
"Wie lautet dein Name, Junge? Bist du Carters Sohn?" Er hatte das Paket bei Carter's Mechanikshop bestellt, es war eine Zusammenstellung verschiedener mechanischer Geräte. Forax hatte mitbekommen, dass die Apparaturen bei einigen seiner Kollegen beliebt waren, und er wollte sich selbst einen Eindruck davon machen. Die Züge fand er gerade noch geheuer, aber die rasante Entwicklung, die in den letzten Jahren stattgefunden hatte, konnte er noch immer nicht ganz begreifen. Dabei war er doch noch nicht so alt!
"Matthew Silverglance ist mein Name", antwortete der Junge,
"Carter ist mein Stiefvater, ich arbeite aber bei ihm im Laden." - "Carter muss ein ganz schön beschäftigter Mann sein, wenn er dich bereits in sein Geschäft einspannen muss", lachte Forax.
"Nicht das", gab Matthew augenblicklich zurück,
"ich helfe, weil ich es möchte! Ich habe die meisten dieser Geräte selbst zusammengebaut. Es fasziniert mich!"
Interessiert hob Forax die Augenbrauen. Das hatte er nicht erwartet. Der Junge hatte etwas an sich...
Als Matthew dann die einzelnen Geräte hervorholte und sie Forax zeigte, wurde der sofort durch die Leidenschaft, die der Junge an den Tag legte, angesteckt. Matthew musste bleiben, bis die Sonne untergegangen war, weil der Adelige Frage um Frage stellte und die Funktionsweise der Geräte wieder und wieder hören wollte.
---------------- Flashback Ende ------------------
Mittlerweile, knapp fünf Jahre später, waren Matthew und Forax so etwas wie Freunde geworden. Forax hatte jede neue Kreation von Carter und Matthew sehen wollen, so sehr hatte ihn der Technik-Wahn gepackt. Als Ausgleich dafpr unterrichtete er den Jungen im Schwertkampf und in der Magie - wobei sich Matthew in letzterem nicht gerade als ein Talent herausstellte. Forax, der ein herausragender Magier war, hatte versucht, Matthew in der Magie auszubilden, doch wirkliche Erfolge hatte die Ausbildung nicht gehabt. Stattdessen konzentrierten sie sich nun darauf, gemeinsam zu meditieren.
Sie hatten ihre Fechtstunde gerade beendet, als Forax dann doch ungeduldig wurde. "Und - gibt es diese Woche etwas neues, das du mir zeigen könntest?" Matthew kam um ein Schmunzeln nicht herum. Er hatte nicht erwartet, dass Forax erst so spät danach fragen würde. Er löste seine neuste Kreation von seinem Gürtel und hielt sie Forax hin. "Ein... Schwert? Ein mechanisches Schwert? Was kann es, schlägt es selbst zu?", fragte der und blickte auf das Schwert, das zwar eine doppelt geschliffene Klinge aus Metall besaß, dazwischen aber Zahnräder und Mechanische Bolzen und Verankerungen hatte.
Matthew lachte kurz auf.
"Leider nein, aber es kann dafür folgendes." Er nahm den Anderthalbhänder hoch und löste eine Riegel, der in die Unterseite des Heftes integriert war. Mit einem mechanischen Schnattern klappte ein zweiter Griff an der Seite leicht heraus. Matthew nahm ihn in die Hand und hatte nun nicht mehr einen Anderthalbhänder, sondern zwei einhändige Schwerter in der Hand. Er wirbelte kurz mit ihnen herum, dann setzte er das Heft der einen Klinge an das der anderen an und drückte das Schwert in seine alte Position - ein Schnappgeräusch erklang und die beiden Klingen waren wieder ein Schwert.
Forax applaudierte kurz anerkennend. "Fantastisch! Es sind zwei Schwerter - aber doch eines. Und dann doch wieder zwei. Wie heißt es?" -
"Gemini. Die Zwillingsklinge.", antwortete Matthew.
"Ich habe es gestern fertig gestellt." - "Ich bin beeindruckt, Matthew. Diese Erfindung übertrifft alles, was du bisher entworfen hast. Und das sage ich nicht nur, weil ich gerne zu Fechten pflege."
Kurz darauf saßen die beiden auf zwei kreisrunden Marmorplatten im Garten des Anwesens. Matthew entspannte seinen Körper und löste seinen Geist - diese Technik hatte Forax ihm nach dem gescheiterte Magietraining beigebracht. Er erhob sich und ging einen Schritt nach vorn. Dann drehte er sich um und stellte fest, dass die Meditation erfolgreich war. Er blickte auf seinen eigenen Körper, der noch immer mit geschlossenen Augen dort in Meditationsposition saß. Er wandelte einen Augenblick umher und fasste - geistesähnlich - durch Gegenstände hindurch -, dann begab er sich zurück in seinen Körper und öffnete die Augen.
Zeitgleich öffnete auch Forax seine Augen und blickte Matthew fragend an - der zur Bestätigung nickte.
"Es hat funktioniert."