Korina nahm den gleichen Weg durch die verzweigten Gänge, über den sie auch hergekommen war. Schlussendlich kam sie an der Falltür zu Rashams Laden an und klopfte dagegen. Sie hörte das Kratzen, als der Hocker verrückt wurde, und einen Moment später öffnete sich die Tür. Rasham reichte ihr die Hand, um ihr hochzuhelfen. "Beehren sie uns bald wieder, gnädige Frau." sagte er, als Korina den Laden verließ.
Das Gasthaus "Zum Blauen Löwen" war leicht zu finden. Neben der Rezeption hang ein Grundriss des Gebäudes. Besonders viele Zimmer gab es nicht, die Schwarze Hand benutzte es wohl nur, um sehr kleine Gruppen unterzubringen. Im Erdgeschoss befanden sich neben der Rezeption auch ein Restaurant und ein Aufenthaltsraum. Im ersten Stock waren vier Doppelzimmer, und im zweiten Stock zwei Dreierzimmer. Gerade noch genug für die "Dunklen Schwingen", wie sie von nun an hießen. Korina setzte sich fürs erste ins Restaurant und trank einen Tee - es würde noch ein bisschen dauern, bis sie hungrig genug fürs Abendessen war, aber sie wollte noch keins der Zimmer in Beschlag nehmen, denn wahrscheinlich würde sie sich eins teilen müssen. Außer ihr war niemand im Restaurant.
Ein dürrer Mann mit langen, schwarzen Haaren, der ein Buch in der Hand hielt, betrat den Raum, setzte sich ungefragt an den gleichen Tisch und schlug sein Buch auf.
"Was machst du hier, Séamus?" fragte Korina mit Gift in der Stimme. Ob sie wohl schnell genug ihr Schwert ziehen konnte, um ihn über den Tisch in zwei Teile zu schlagen?
"Och, ich hab mir nur ein schönes Plätzchen gesucht, um den neuesten Roman von Hans Berton zu lesen." antwortete der Mann, Séamus, ohne von seinem Buch aufzusehen. "Und du kannst deine Hände schön bei deiner Tasse lassen. Du weißt genau, dass niemand schnell genug ist, um mich zu erwischen."
"Spiel keine Spielchen, Wichser. Willst du etwa diese Mission sabotieren, damit ich meinen Fluch nicht brechen kann?"
Séamus sah von seinem Buch auf. Seine warmen, blauen Augen passten nicht zu seinem ununterbrochenen gehässigen Gesichtsausdruck. "Oh, ganz im Gegenteil, meine liebe Korina. Um ehrlich zu sein, ich sollte dir ausrichten, dass unser Plan fast abgeschlossen ist, und dass es uns eigentlich sehr entgegen kommen würde, wenn du meine Schwester erwecktest und aus eigenem Antrieb zu uns kämest."
Der Dämon in dem Schwert war also Séamus' Schwester? Das war was neues. "Und was hätte ich bitte schön davon, euch zu helfen? Ich will nur den Fluch loswerden, nicht den Verrückten helfen, die mich damit belegt haben."
"Da muss ich dich wohl enttäuschen. Wenn Schwesterherz erst mal wach ist, wird sie dir selbst sagen, dass sie den Fluch nur mit Hilfe unseres Anführers entfernen kann. Hmpf, deine schlechte Laune verdirbt mir die Lesestimmung. Ich verzieh mich dann mal."
Als Séamus aufstand, zog Korina blitzschnell ihr Schwert und schlug nach ihm. "Bleib hier und red Klartext, Wichser!"
Aber die blauäugige (Lese-)Ratte veränderte blitzschnell ihre Gestalt, und bevor man noch einen Blick darauf werfen konnte, zerfloss er schon zu einer Pfütze aus Schatten. Die Pfütze bewegte sich zur Tür, wo Séamus wieder aus ihre emporstieg. Jetzt war er ein Affe mit schwarzen Federn statt Fell, einem langen, mit großen Federn bestückten Schwanz, der in einem Skorpionsstachel ähnelte, und kleinen Flügeln, die aus dem Kopf wuchsen. Seine Augen waren jetzt Punkte aus durchdringendem blauen Licht, und seine Klauen waren lang wie Dolche. "Ich hab dir doch gesagt, ich bin zu schnell. Kein Dämon kann seine wahre Form schneller annehmen als ich!"
Korina stürzte sich wieder auf ihn, doch er versank erneut im Boden. Während er unter der Tür durchkroch, sagte er noch: "Ach übrigens, Berton ist auch auf dem Fest. Bitte bring ihn nicht um, ich will das Buch noch signiern lassen!"
Verdammt. Der Arsch war schon wieder entkommen. Korina setzte sich wieder an den Tisch. Der Appetit nach Tee war ihr aber vergangen.